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Der verlorene Sohn von Olga Grjasnowa

 

Es ist das Jahr 1839 und seit Jahrzehnten tobt der Kaukasische Krieg. Der mächtige Imam Schamil, Führer der Bergvölker Dagestans und Tschescheniens, gerät nach Jahren des Kampfes gegen das russische Heer in eine ausweglose Situation und muss seinen geliebten ältesten Sohn Jamalludin den Russen als Geisel geben. Nach wenigen Tagen sollte der Neunjährige wieder nach Hause zurückkehren dürfen, doch daraus wurden mehr als 15 Jahre.

 

 Jamalludin leidet in der ersten Zeit in Russland sehr unter der Trennung von der vertrauten Heimat. Insbesondere die geliebte Mutter fehlt ihm. Doch allmählich lebt er sich in das fremde Russland ein, die russische Sprache wird ihm immer vertrauter. Der russische Zar Nicolai hat große Pläne mit Jamalludin. Sein Kalkül ist, dass der Sohn des mächtigen Schamil nach Rückkehr als Erwachsener in seine Heimat die russische Politik unterstützen wird. Deshalb scheut der Zar keine Kosten für die beste Ausbildung des Sohnes seines Feindes. Jamalludin erhält sowohl eine ausgezeichnete Schulbildung, lernt mehrere Fremdsprachen, wird in die russische Gesellschaft eingeführt und wächst im Einflussbereich der Zarenfamilie auf. Doch der Plan des Zaren geht nicht auf. Als nach 15 Jahren Jamalludin im Alter von 24 Jahren gegen zwei georgische Prinzessinnen und weiteren Familienmitgliedern des georgischen Fürsten ausgetauscht wird, stirbt kurz darauf Zar Nicolai und sein Nachfolger Alexander II.  hat andere Pläne.

 

Für Jamalludin bedeuted der erneute rigorose Einbruch in seinem Leben eine weitere Zerreißprobe. Er hat sich an das feudale russische Gesellschaftsleben der hochstehenden Persönlichkeiten gewöhnt und hat sich eine angesehene Stellung erworben. Das ist mit dem Tod des Zaren zunichte geworden. In das einfache Leben der kaukasischen Heimat kann Jamalludin sich nicht mehr eingewöhnen. Der Kulturunterschied zur russischen Gesellschaft ist zu krass. Seine Familie und seine Landsleute sehen in ihm immer stärker einen Vertreter des russischen Feindes und einen Verräter der islamischen Religion und Kultur. Sein einstiger kämpferischer Lebenswille zerbricht an den feindlichen Umständen seiner ursprünglichen Heimat. Er stirbt gebrochen an Tuberkulose.

 

 Der Roman von Olga Grjasnowa ist inspiriert von einer historischen Begebenheit. Die Geschichte ist aber sehr frei ausgeschmückt und wird so eher zu einem Märchen mit historischem Hintergrund. Das liest sich jedoch sehr interessant und flüssig, zumal die Thematik brandaktuell anmutet. Der im Mittelpunkt stehende Sohn des Imam, Jamalludin, wird sowohl als Kind als auch als junger Erwachsener brutal aus seinem vertrauten Umfeld gerissen und muss sich ad hoc in eine für ihn fremd gewordene Gesellschaft integrieren. Ein junger Mensch auf der Suche nach seiner Identität und Heimat, der auf Grund seiner frühen Entwurzelung und der Uneindeutigkeit der Welt zerbricht.

 

Christa Bartel

 

Grjasnowa, Olga: Der verlorene Sohn

Berlin, Aufbau, 2. Aufl. 2020 - 282 S.